Granularsynthese
Granularsynthese (Grafik: Nikolai Kaeßmann)

Die Granularsynthese steht in der breiteren Wahrnehmung doch deutlich hinter den „gängigen“ Syntheseformen wie subtraktive Synthese, FM etc. zurück. Zu stark haben u.a. analoge Synthesizer mit ihren subtraktiven Filtern die Synthesizerlandschaft geprägt.

Trotzdem dürften die meisten von uns die Granularsynthese schon genutzt haben – zumindest im Hintergrund, vielleicht sogar, ohne es zu wissen. Doch dazu komme ich etwas später.

Die theoretischen Grundlagen gehen auf den ungarischen Ingenieur Gábor und seine Gábor Transformationen und Klangquanten zurück. Dies soll nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden, ohne näher darauf eingehen zu wollen.

Anfang der 70er kam der griechische Komponist Yannis Xenakis, der diese Theorie in seinen Kompositionen umsetzte und dabei mit Tonbandschnipseln arbeitete. Punkt. Wer sich da tiefergehender informieren möchte, der findet einschlägige Literatur via Google.

Dieser Artikel soll dazu dienen, das Prinzip der Granularsynthese und die daraus entstehenden Möglichkeiten allgemeinverständlich darzustellen.

Granularsynthese – Was ist ein Grain?

Ich starte mit der folgenden These: Die Granularsynthese kann jeden Sound verwenden und daraus etwas gänzlich anderes machen. Das klingt doch schon mal vielversprechend. Dies bedeutet, dass die Granularsynthese keinen Sound erzeugt, sondern sich bestehenden Audiomaterials bedient. Meist sind dies Samples, das muss aber nicht zwingend sein. Es können auch Schwingungsformen von Oszillatoren o. ä. sein. Wir werden sehen, dass es dabei deutliche Parallelen zum Sampling und auch zur Wavetable-Synthese gibt.

Bei der Granularsynthese wird das Audiomaterial in kleine Bestandteile, die sogenannten Grains (zu deutsch Körner), aufgespaltet. Diese können eine zeitliche Länge von 1 ms bis zu 100 ms haben. Oft ist das Fenster mit bis zu 20 ms aber kleiner. Ein Audio-Sample wird dabei also in diese Körner (Grains) zerlegt und in einer Graintable abgelegt. Spielt man die Grains in ihrer Original-Reihenfolge und unveränderter Abspielgeschwindigkeit wieder ab, dann erklingt das Material im Prinzip so, wie es aufgenommen wurde. Das wäre jetzt aber irgendwie langweilig.

Granularsynthese – Veränderung der Grains

Was wäre aber, wenn man die Reihenfolge der Grains verändert, alle oder einzelne Körner rückwärts abspielt, loopt, skippt, löscht, moduliert ? Und das alles, ohne den Root-Key, also die Basistonhöhe zu verändern? Aber mit Veränderung der Abspielgeschwindigkeit. Das klingt schon deutlich interessanter.

Wir nehmen mal als Beispiel eine digitale Bildaufnahme, vielleicht ist das noch etwas plakativer. Ein Kinofilm arbeitet normalerweise mit 24 Frames (Bilder) pro Sekunde. Diese Frames entsprechen unseren Grains. Die Auflösung in 24 Grains (Frames) pro Sekunde ist fein genug, damit unser Auge dies als „durchlaufenden“ Film wahrnimmt.

Um die Parallele zu vervollständigen: Spielen wir den Film mit 24 Frames in der Reihenfolge ab, in der er aufgezeichnet wurde, dann sehen wir die Handlung so, wie die Kamera sie zeitabhängig aufgenommen hat. Das macht aber aus der Bildsequenz nichts Neues.

Wie wäre es denn, wenn wir die 24 Frames pro Sekunde in einer komplett anderen Reihenfolge abspielen lassen, einzelne Bilder herausnehmen, andere verdoppeln und Standbilder einfügen (in etwa vergleichbar mit Loops bei Audiomaterial) würden? Wenn wir jeden Frame individuell bearbeiten können, ja sogar mehrere Frames (Grains) gleichzeitig abspielen lassen? Wir sind uns einig, dass da ein höchst ungewöhnliches Filmmaterial entstehen würde.

Wenn wir das wieder das wieder zurück auf eine Graintable eines Audioosignals übertragen, dann entstehen aus einem vorhandenen Klang dabei völlig neue Klänge – willkommen bei der Granularsynthese.

Die Granularsynthese – Gestalten der Übergänge

Und genau so, wie wir beim Bildschnitt die Übergänge zwischen den Frames „gestalten“ können, so kann auch der Übergang von einem Grain zum nächsten mit einer Audio-Envelope und einem dabei entstehenden Crossfade „geschönt“, „angeglichen“ oder „geglättet“ werden. Und genau dies nennt man bei der Granularsynthese „Smoothing“.

Das Aussehen (Shape) und die Länge des Crossfades bezeichnet man bei der Granularsynthese „Window“. Diese Werkzeuge dienen also dazu, die Übergänge zwischen den Grains „weicher“ zu empfinden. Wie die Übergänge wahrgenommen werden, das hängt auch von der Graindichte und dem Gap zwischen den Grains ab.

Der größte Benefit von der Granularsynthese ist der, dass man die Tonhöhe variieren kann, ohne die Ablaufgeschwindigkeit zu ändern oder aber die Ablaufgeschwindigkeit beeinflusst, ohne die Tonhöhe zu behelligen.

Die Granularsynthese entkoppelt Tonhöhe und Abspielgeschwindigkeit.

Die Granularsynthese sieht Tonhöhe und Abspielgeschwindigkeit eines Audiosignals nicht mehr als untrennbare Einheit, sondern als unterschiedliche und damit separat beeinflussbare Parameter. Verlassen wir dabei kurz den Bereich des Sounddesigns und gehen in Richtung Post Production mit Time-Stretching und Pitch-Shifting.

Dies sind Funktion, die wir wahrscheinlich von unserer DAW oder auch Programmen wie Ableton Live oder Celemony Melodyne her kennen.

Halten wir uns dazu mal folgendes Phänomen vor Augen: Erhöhen wir die Abspielgeschwindigkeit eines Samples oder eines Playbacks, dann verändern wir normalerweise auch die Tonhöhe. Eine höhere Geschwindigkeit geht in Richtung „Micky Maus“, eine langsamere Geschwindigkeit in Richtung tiefe Slow-Motion-Stimme. Das mag ein netter Effekt sein, ist aber nicht immer gewünscht.

Will man einen Song oder eine Spur des Songs kürzer oder länger haben, ohne dass sich die Tonhöhe verändert, dann kommt das sogenannte Time-Stretching ins Spiel, das oft auch mit den Möglichkeiten der Granularsynthese arbeitet.

Ein Beispiel

Dazu ein Beispiel : Wir sampeln die Laute von „Hallo“ separat und loopen diese. Wir erhalten „HHhhh…“, „Aaaaa…“, „Lllll…“ und „Oooooo“. Nun definieren wir diese 4 Laute als Grains und legen diese auf die Tasten C-D-E-F einer Tastatur. Folgend spielen wir diese vier Töne hintereinander und erzeugen so etwas wie „Hallo“. Spielen wir die 4 Töne nun im Schneckentempo, dann hören wir ein sehr langsames „Hallo“. Spielen wir die Töne ganz schnell, dann haben wir ein schnell ablaufendes Wort. Das, was dabei aber konstant bleibt, das ist die Tonhöhe. Nichts ist mehr von Micky Maus & Co zu hören

Rufen wir unsere 4 Grains schnell ab, dann laufen die vier Phoneme ineinander oder Teile werden sogar „verschluckt“ bzw. komplett weggelassen. Spielen wir die vier Töne langsam, dann kommen die Loops bzw. Grain-Wiederholungen ins Spiel, die das langsamere Abspielen simulieren.

Wie gut das gelingt, das hängt natürlich auch vom verwendeten Audiomaterial und vom Grad der Tempoänderung ab.

Und damit haben wir das Prinzip des Time Stretchings verstanden. Das hat also nichts mit Zeitreisen u. a. Phänomenen zu tun. Eigentlich überlisten wir unser Gehör. Mit dem Pitchshifting verhält es sich ähnlich. So wie ich jeden Ton meiner sehr, sehr einfachen Vierer-Graintable verändern kann, ohne dass sich die Ablaufgeschwindigkeit ändert, kann ich das auch mit einer sehr komplizierteren Graintable machen. Die zeitlichen Abstände zwischen den Grains bleiben ja davon unbehelligt. So arbeiten Programme wie Autotune, Logic, Melodyne und viele andere.

Granularsynthese – Time Stretching und Pitch Shifting beim Sounddesign

Die beiden Werkzeuge lassen sich nicht nur bei der Post Production nutzen, um Songs oder Teile davon im Timing zu ändern oder nicht sauber gesungene Phrasen zum guten Ton zu verhelfen. Nein, sie helfen auch beim Sounddesign. Aus einer normalen Tonfolge kann bei extremer Verlangsamung ein sich ständig bewegender Klangteppich entstehen oder eine endlose Drone. Die Möglichkeiten sind riesig.

Man kann natürlich auch die Abstände zwischen den Grains in Abhängigkeit zum DAW-Tempo setzen, um so pulsierende Ergebisse zu erzeugen. Momentan scheint die Granularsynthese wohl bestens für Pads, Ambient-Sachee, Kalngteppiche und sich entwickelnde (evolving Sounds) oder pulsierende Klänge zu eigeen.

Doch mal sehen, was da noch für Werkzeuge kommen. Spannend wird es, denn eigentlich brauchen wir jetzt den 100. VA-Synthesizer nicht mehr unbedingt. Da ist eigentlich alles gesagt.